Missed Nursing Care: ein internationales Phänomen

 

Hintergrund

Der Bericht der europäischen Kommission Costs of unsafe care and cost effectiveness of patient safety programmes (Zsifkovits et al., 2016) aus dem Jahr 2016 stellt fest, dass bei ca. 4% bis 17% der im Krankenhaus aufgenommenen Patient*innen Komplikationen auftreten, worunter 44% bis 50% vermeidbar gewesen wären. Es wird geschätzt, dass jährlich durchschnittlich zwischen 0,2% und 6% der gesamten Ausgaben für die Gesundheitsversorgung durch die Folgen dieser Komplikationen aufgebraucht werden. Die Autor*innen verweisen auf die vielfältigen Konsequenzen von unsicherer Versorgung auf die Lebensqualität, auf den klinischen Zustand bis hin zum Tod der Patient*innen. Zusätzlich wird berichtet, dass Patient*innen sowie Gesundheitspersonal ihr Vertrauen in das Gesundheitssystem verlieren, wenn vermeidbare Komplikationen im Rahmen des Behandlungsprozesses auftreten (Zsifkovits et al., 2016).

Pflegepersonen spielen im Rahmen der interprofessionellen Arbeit im Krankenhaus eine bedeutende Rolle im Umgang mit Patient*innenrisiken und in der Prävention von Komplikationen. Sie sind die Berufsgruppe mit dem zeitmäßig höchsten und intensivsten Patient*innenkontakt und tragen eine große Verantwortung bei der Erkennung von Risiken und der Durchführung und Evaluierung prophylaktischer Maßnahmen (Kocks, Michaletz-Stolz, Feuchtinger, Eberl & Tuschy, 2014).


Unzureichende Rahmenbedingungen im Krankenhaus

Aus den stetigen demografischen, epidemiologischen und ökonomischen Veränderungen in der Gesellschaft resultieren bedeutende Herausforderungen für die Planung und Umsetzung der pflegerischen Versorgung im Krankenhaus. Diese Herausforderungen kommen durch die "zunehmend komprimierten und intensivierten Rahmenbedingungen" im Gesundheitswesen zustande (Kocks et al., 2014, S. 19). Krankenhäusern werden im Sinne der Ökonomisierung einer laufenden Prozessoptimierung und Kostenreduktion unterzogen. Die immer älter werdende Bevölkerung, die Zunahme chronischer und psychischer Erkrankungen und die erhöhte Morbidität, die zugleich mit zahlreichen Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie einhergehen, führen zu einer erhöhten Arbeitsverdichtung und zu einem deutlich höheren Fehlerrisiko im Krankenhaus (Kocks et al., 2014).

Eine Folge davon ist, dass Pflegefachpersonen im Rahmen der Priorisierung der Patient*innenversorgung notwendige Pflegetätigkeiten nicht oder nur teilweise bzw. zu spät durchführen können. Dieses Phänomen wird u.a. als Missed Nursing Care beschrieben (Hübsch et al., 2020; Stemmer & Schubert, 2019). Die hohe Prävalenz von Missed Nursing Care wird in der Literatur als zentrales Ergebnis identifiziert.

  • In den durchgeführten Studien berichten zwischen 55% und 98% der Pflegepersonen, dass sie notwendige Pflegetätigkeiten nicht anbieten oder beenden konnten (Jones et al., 2015).

Pflegetätigkeiten, welche am häufigsten als implizit rationiert beschrieben werden, sind die Mobilisation der Patient*innen, Gehtraining, der Lagerungswechsel im Bett (Brown et al., in Kalisch et al., 2009), die Patient*innenedukation, die Entlassungsplanung (Ball et al., 2014; Jones et al., 2015), emotionale Unterstützung und Patient*innengespräche (Ball et al., 2014), die Aktualisierung des Pflegeplanes (Ball et al., 2014) und die Rechtzeitigkeit der Versorgung (Jones et al., 2015). Tätigkeiten, die im Rahmen der Infektionsprophylaxe, der medizinischen und therapeutischen Versorgung, der Nahrungsaufnahme oder Ausscheidung durchgeführt werden, werden am seltensten genannt (Jones et al., 2015).

Obwohl Unterschiede zwischen Krankenhäusern, Stationstypen, Pflegepersonen- und Teamarbeit-bezogenen Charakteristika beobachtet wurden, gibt es für Jones et al. (2015) Aspekte, die diese implizit rationierten Pflegetätigkeiten gemeinsam haben:

[They] address the emotional and psychological needs of patients rather than the physiological needs; their effect on patient health is indirect and less immediate; they require relatively more time to complete and/or require an unpredictable amount of time to complete; and they are less likely to be audited (Jones et al., 2015, S. 1132).


Die negativen Konsequenzen der impliziten Rationierung von Pflegetätigkeiten auf pflegesensitive Patient*innenoutcomes im akuten Setting sind vielfältig. Hierzu zählen eine reduzierte Patient*innenzufriedenheit, Medikamentenfehler, Stürze, nosokomiale Infektionen oder Dekubitus bis hin zu einer erhöhten Mortalität der Patient*innen (Kalisch et al., 2012; Blackman et al., 2018).

Unerwünschte Folgen wurden auch auf Ebene des Pflegepersonals thematisiert, unter anderem sind erhöhte Fluktuations- und Ausfallsraten und Arbeitsunzufriedenheit ein Thema (Kalisch et al., 2011; Tschannen et al., 2010).


Jones, Hamilton und Murry (2015) fassen die Ergebnisse aus mehreren internationalen Studien zusammen und berichten über eine hohe länderübergreifende, aber auch lokale Varianz in der Häufigkeit von implizit rationierter Pflege und Patient*innenoutcomes sowie über unterschiedliche Gewichtungen bei identifizierten Einflussfaktoren. In der Interpretation dieser Streuung betonen die Autor*innen, dass die unterschiedlichen kontextuellen, berufspolitischen und wirtschaftlichen Aspekte in der Ausübung der Pflegeberufe eine zentrale Bedeutung für das Phänomen der impliziten Rationierung haben. Anders erklärt, obwohl implizite Rationierung ein allgemeines Phänomen ist, gibt es Hinweise darauf, dass seine Ausprägung kontextabhängig ist.

Es bedarf deshalb – ergänzend zur quantitativen Bestimmung der Dimension des Phänomens – einer Exploration der lokalen Bedeutung spezifischer Einflüsse auf implizite Rationierung von Pflegetätigkeiten aus gemeinsamen Erfahrungen von Pflegepersonen.


Weiterführende Links

 

Das Modell der Missed Nursing Care

Kalisch, B., Landstrom, G., Hinshaw, A.(2009) Missed nursing care: a concept analysis. Journal of advanced nursing. 65(7):1509-17. doi:10.1111/j.1365-2648.2009.05027.x

PubMed Link: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19456994/

 

Das MISSCARE Survey

Kalisch, B., Williams, R. (2009) Development and psychometric testing of a tool to measure missed nursing care. The Journal of nursing administration. 39(5):211-9. doi: 10.1097/NNA.0b013e3181a23cf5

PubMed Link: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19423986/

 

Das revised MISSCARE Survey

Dabney, B., Kalisch, B., Clark, M. (2019) A revised MISSCARE survey: Results from pilot testing. Applied nursing research: ANR. 50:151202. doi:10.1016/j.apnr.2019.151202

PubMed Link: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31668895/